Der Ernst des Lebens
Es ist dunkel als mein Wecker klingelt, dennoch bin ich sofort wach. Sechs Uhr ist es. Ich stelle den Kaffetopf auf den Herd und baue mir Frühstück – Obst und Müsli. Als es die Uhr sieben zeigt schwinge ich mich auf mein Rad. Mittlerweile ist es hell. Das Wetter ist gut, meine Regenhose hab ich dennoch über gezogen – als Windschutz.
Ich bin natürlich viel zu zeitig da und trinke meinen mitgebrachten, nur noch lauwarmen Kaffee, aus der Termostasse. Im Foyer ist es warm. Ich setze mich und warte. Dieser Gebäudeteil sieht neu aus und besteht fast ausschließlich aus Holz und Glas. Der Rest sieht von außen wie ein typischer Plattenbau aus. Es gibt ein paar öffentliche Computer und freies W-Lan. Pünktlich um acht werde ich vom Personaler, den ich von Telefonaten und E-Mails bereits kenne, abgeholt.
In seinem Büro zeigt er mir einiges Wissenswertes zum Stadtbauamt und gibt mir die Unterlegen die ich brauche. Da ich aktuell noch keine Personnummer (PN) erhalten habe, bin ich im System zunächst nur als Praktikant geführt – der einzige Status, der ohne PN funktioniert. Darum habe ich auch erst mal keinen Zugriff auf bestimmte Inhalte und muss meine Arbeitsstunden händisch schreiben. Sobald ich meine PN erhalte wird das aber korrigiert und meine Stunden nach getragen. Lohnzahlung ist daher auch erst mal nicht möglich, aber das hatte ich mir aber schon gedacht. "Das bekommst du dann selbstverständlich nachträglich ausgezahlt. Das Computersystem ist leider etwas dumm." sagt er.
Um neun gibt es dann mit der gesamten Belegschaft meiner Unterabteilung eine "Fikapus" (Kaffeepause) in der wir, ja Kaffee trinken belegte Brötchen essen und sich jeder etwas vorstellt. Es ist anstrengend zuzuhören, da jeder einen etwas anderen Dialekt hat aber ich verstehe das meiste. Als ich mich dann selbst vorstellen soll, bin ich total nervös. Das Sprechen fällt schwer und mir entfallen in der Aufregung ein paar Worte. Aber das ist nicht schlimm, man versteht mich trotzdem.

Das Büro, auf dessen Schild schon mein Name steht, ist eigentlich von einem anderen Kollegen. Der ist jedoch bis April in Vaterschaftsurlaub. Auf dem Schreibtisch steht eine kleine Pflanze mit einem Begrüßungskärtchen. Ich bekomme einen Mentor, der ungefähr so alt ist wie ich, evtl. etwas jünger. Schwer zu sagen, junge Männer mit Bart kann ich schlecht einschätzen... So viele neue Menschen, so viele Eindrücke und dann auch noch die andere Sprache. Mein Kopf ist voll. Glücklicher Weise ist das dem Abteilungsleiter klar und er meint, weitere Unterweisungen bekäme ich am nächsten Tag. Statt dessen fahre ich mit meinem Mentor Arbeitsklamotten für mich besorgen. Da die Winterkleidung noch nicht da ist, bekomme ich zunächst Hose, Jacke, Mütze, T-Shirt, Handschuhe und Regenkleidung. Alles in schickem Signalgelb. Das Finden passender Arbeitsschuhe und Gummistiefel erweist sich zwar als Herausforderung aber nicht als Unmöglichkeit.
Als wir alles haben, fahren wir zurück zum Büro. Es ist bereits fast Mittagszeit. Ich melde mich testweise am Computer an. Ich soll schauen, zu was ich alles Zugang habe – schließlich habe ich nur Praktikanten-Rechte. Also die GIS-Daten Bearbeitung geht schon mal nicht. Ich kann nur gucken, naja kann ich wenigstens nichts kaputt machen.

Nachmittags fahren wir dann zu meiner ersten Baustelle. Wir stecken ein Schnurgerüst für ein Einfamilienhaus ab. Das ist an sich eine nicht besonders komplizierte Aufgabe. Allerdings haben sich die Messgeräte während der letzten vier Jahre weiter entwickelt. Die GPS-Antenne ist jetzt am Reflektorstab und nicht mehr auf dem Tachymeter und man hat Touchscreens die gut funktionieren – außer bei Regen – und die neuste Generation der Messgeräte quatscht einem eine Klingel ans Knie. Ich frag mich zwar wozu, denn das unamüsierte Düdlü wenn das Gerät die Sicht zum Reflektor verloren hat, reicht eigentlich völlig. "Wir haben die neuen Geräte erst zwei Wochen. Bis jetzt hat noch keiner heraus bekommen wo man die Sprache ausstellen kann." Mein mein Mentor und lächelt schief. Ich bin sehr zufrieden, dass wie die hellgrünen Geräte in den roten Koffern haben und nicht die gelben Geräte in den gelben Koffern. Letztere fand ich nämlich bereits im Studium sehr unübersichtlich und unhandlich. (Nein ich werde hier keine Marken nennen! Nicht das sich am Ende noch die Fachpresse auf mich beruft.)
Jeden falls messen wir zur Stationierung einen Polygonpunkt und zwei GPS-Punkte. Um den Polygonpunktkasten zu öffnen braucht man in Deutschland einen bestimmten Haken oder einen schmalen Finger. Hier nimmt man das Messer. Ja richtig, das Messer gehört hier zur Grundausstattung eines jeden Handwerkers und auf Baustellen tätigen Vermessers. Kein kleines Klapp-Taschenmesser, sondern eine einfache starre Klinge ca 10-12cm lang mit einem Griff und damit man es weg stecken kann ohne sich zu verletzen, einem Heft. Jedenfalls fällt meinem Mentor bei der Gelegenheit auf, dass ich noch kein Messer habe.
Im Messkeller zurück erhalte ich dann mein Messer, einen Zollstock und einen Druckbleistift. Ja und da es gegen 15 Uhr ist, gibt es erst mal eine Kaffeepause. Danach setzen wir uns noch an die Auswertung des Schnurgerüstes. Die Daten werden ins GIS eingelesen, die Hausoberfläche angepasst und die Attribute aktualisiert, sodass nun jeder im System sehen kann: Schnurgrüst ist erledigt. Dann ist Feierabend. Aufgrund der Menge an Informationen und vor allem der anderen Sprache fühlt sich mein Kopf wie eine Bleikugel an. Ich bin müde. Die halbe Stunde Radfahren bis zu meiner Unterkunft tut gut. Obwohl ich ziemlich schwitze, bin ich nicht mehr so kaputt als ich zu Hause ankommen. Man sagt ja auch, das Bewegung den Kopf frei mach und anregt. Beides stimmt in meinem Fall. Ich lese Abends noch etwas und gehe bei Zeiten schlafen.

Am nächsten Vormittag bekomme, unterbrochen von der täglichen 8:30-9:00 Kaffeepause (Fika), ich eine umfängliche Einweisung in unser GIS und generelle Informationen zum Umgang mit Daten und Informationen in meiner Position. Der Leiter meiner Unterabteilung übernimmt diese Aufgabe. Außerdem fragt er ob ich zu einer Schulung bezüglich unseres GIS nach Stockholm fahren würde. Ich bin etwas überrascht, aber natürlich bejahe ich das. Bisher hies "Schulung" immer lernen auf der Baustelle – also ein Mentor unterweist einen. Dass meine GIS-Kenntnisse nicht ganz aktuell sind, habe ich ja von Anfang an offen gelegt und bin sehr froh, dass man mir eine solche Chance bietet. Danach führt er mich noch durch die Planungsabteilung. Dort stellt er mich einigen Leuten vor und lässt sie auch etwas über ihre Tätigkeiten erzählen.
Das Stadtbaubüro, wie es wörtlich übersetzt heist, ist ein Teil der Komunalverwaltung und gliedert sich in vier Unterabteilungen. Planungsabteilung, Baurechtsabteilung, Landesvermessung (Grundstücksverwaltung) sowie die Mess- und Gisabteilung in der ich arbeite. Dazu kommen noch rein interne Aufgabenfelder wie Administration, Personalverwaltung etc. Diese befinden sich mit uns zusammen auf der Etage und sind für alle vier Abteilungen zuständig. Dann gibt es natürlich noch einen Ausschuss, der allerdings eher politische Wirkung hat und schwere Entscheidungen nach außen kommuniziert, bespricht und schließlich festsetzt. Ohne den Ausschuss, arbeiten rund 50 Menschen zusammen in der Stadtbauverwaltung. Wobei ich nur mit ungefähr zehn bis fünfzehn ständig zu tun habe. Soviel erst mal kurz zu meinem Arbeitsumfeld.
Mein Abteilungsleiter legt mir außerdem ans Herz, dass mich eingehend mit der schwedischen Sprache, besonders mit der Fachsprache befassen soll. Er borgt mir einige Bücher aus zu vermessungstechnischem Grundlagenwissen. Ich besorge mir ein Notizbuch aus dem Materialfundus und nutze die restliche Zeit bis zur Mittagspause um mich etwas in die Sprache der schwedische Vermessung einzulesen.

Nachmittags sind wir draußen auf Baustelle, ein weiteres Schnurgerüst abstecken. Da wir unter Anderem für die Aktualität von Bauwerksdaten (Gebäude, Straßen,...) zuständig sind, fahren wir danach noch einige andere Baustellen ab und schauen ob diese fertig sind zum Einmessen. Es ist Gang und Gäbe, dass man das Abstecken des Schnurgerüstes erfragt, die Fertigstellung jedoch nicht an uns meldet. Es ist also unsere eigene Aufgabe heraus zu finden, welche Baustellen wann fertig sind, um sie ein zumessen.
Abends bin ich wieder ziemlich platt. Ich schaue schwedische Nachrichten und eine schwedische Quitzshow "Wer weis am meisten", die eine halbe Stunde geht. Dann gebe ich mich meiner Müdigkeit geschlagen und lege mich schlafen.

Die nächsten Tage fahre verlaufen ähnlich. Mir werden einige wichtige Dinge erklärt, wie zum Beispiel, dass jeden Tag im Messkeller 8:30 bis 9:00 die Kaffeepause (Fika) ist und auch 14:30 bis 15:00. Ich vergesse das manchmal, wenn ich gerade dabei bin mich mit der Layer und Attributstruktur unseres GIS-Systems zu befassen. Ich fahre mit einem Kollegen auf Baustelle und wir gehen anschließend oder am nächsten Tag die Auswertung durch. Außerdem werde ich auf die Schalen mit Obst, die im Flur stehen hingewiesen. Das Obst ist für alle da. Für eine Zwischenmahlzeit, zum Beispiel zur Fika kann man sich da bedienen.
Freitag bekomme ich die Bestätigung für meinen GIS-Kurs. Er wird in der zweiten Oktoberwoche etwas nördlich von Stockholm statt finden. An- und Abreise erfolgt mit dem Zug und ich bin in einem Hotel unter gebracht. Frühstück ist im Hotelpreis drin und im Kurs sind 9:00 Fika, Luch und 15:00 Fika enthalten. "Wenn du Abends nur einen Tee benötigst, bist du also voll versorgt." sagt mein Chef halb lachend.

Am Samstag mache ich schließlich mal etwas Budenschwung. Auf den schwarz weißen Fake-Fliesen in Küche und Flur sieht man den Dreck doch sehr deutlich und wenn ich einmal dabei bin fege ich die ganze Wohnung und wische anschließend. Hm... ist wischen mit einem Mopp nicht sprachlich gesehen eigentlich mopping?
Den frühen Nachmittag verbringe ich mit Hasse beim Pilzesammeln, Trattkantarellen natürlich. Die schmecken aber auch gut! Nach einer Weile legen wir eine Pause ein, setzen uns jeder auf einen Stein lauschen dem Wald und reden ein Wenig. Er erzählt unter anderem von einer Reise, die er vor vielen Jahren unternommen hat. Er hat sich in Kalifornien ein Motorrad gekauft und ist die Westküste entlang Richtung Süden gefahren, durch die USA, Mexiko und Guatemala. Schon damals haben ihn deshalb viele für verrückt gehalten. Aber da war es noch nicht so gefährlich sagt er. Die gleiche Route würde er heute keinem mehr empfehlen.
Zurück bei meiner Unterkunft begegnen wir meinen Vermietern. Sie erzählen uns von einem Fest, das am nächsten Tag in der Nähe von meiner zukünftigen Wohnung statt findet. Es wird von der Holzfällervereinigung in Zusammenarbeit mit der Kochschule veranstaltet. Es wird einige Aktivitäten und Informationen zum Thema Wald geben und ein paar Schüler der Kochschule bereiten etwas leckeres zu Essen. Ich gebe den Beiden einige Pilze ab und bekomme alte Zeitungen zum Trocknen meiner Pilze.

Das Wetter am Sonntag ist sehr gut. 19°C zeigt das Termometer in Hasses Auto, als wir eine Nachbarin von ihm abholen und zum Fest fahren. Das Wort Nachbar muss ich kurz erklären, denn es wird hier manchmal ein Wenig anders verwendet. In Städten und Mietshäusern ist die Bedeutung gleich wie im Deutschen. Auf dem Land können Nachbarn Leue sein, die neben Einem wohnen, aber auch Leute die etwas weiter entfernt oder einige Höfe weiter wohnen. Man fasst den Begriff also etwas weiter.
Die ältere Dame ist freundlich und recht beredt. Sie erzählt einiges, stellt mir einige Fragen und lobt mein gutes Schwedisch. Allgemein kann man sagen, dass die Schweden offenbar gern loben. Mit Kritik tun sie sich hingegen oft etwas schwer. Wenn kritisiert wird, dann meist freundlich verpackt. Sollte euch also einmal ein Schwede freundlich darum bitten dieses oder jenes vielleicht zu unterlassen, kann es sein, dass er meint: Lass den Scheiß! Dafür fluchen sie gern, viel und bildhaft. Und noch eine praktische Angewohnheit haben sie die Schweden. Kennt ihr auch die Leute, die man in Deutschland nach dem Weg fragt und dann erzählen sie einem irgendeinen Scheiß, nur damit sie nicht zugeben müssen, das sie keine Ahnung haben? Dass das hier passiert ist sehr unwahrscheinlich. Nicht weil man sowieso das GPS fragt, sondern weil die meisten Menschen hier die Angewohnheit haben lieber zu sagen, dass sie keine Ahnung haben als etwas Falsches zu sagen. Das ist nicht besonders hilfreich, aber ehrlich und man verläuft sich nicht – also zumindest nicht aufgrund von Falschaussagen.
Fan (Teufel)... wo war ich noch? Achso das Fest ist auf einem kleinen gekiesten Platz im Wald. Es gibt einen Stand an dem man sehen kann welche Tiere so in den durch Regen entstehenden kleinen Wasserflächen im Wald leben, einen über den Elch und seine Lieblingsspeisen, eine Rätselrally, einige Stände zur Waldarbeit sowie einen Dosenschießstand (Luftgewehr) und natürlich ein Theke an dem zwei Schüler der Kochschule unter Aufsicht eines Ausbilders am offenen Feuer kochen. Es gibt eine Art Wildgeschnetzeltes mit Schwarzkohl, Wurzelgemüse und Preiselbeeren. Das ganze landet in einem Brötchen und schmeckt ausgezeichnet. Daneben kann man sich selbst am Wasser oder Kaffee bedienen und wenn man möchte auch eine kleine Süßspeise essen. Bezahlen muss man nichts dafür. Viele Leute sind selbst Mitglieder in der Vereinigung und melden dann nur an, wie viel Familie sie mitbringen. Da die Veranstaltung von Mittag bis zum späten Nachmittag geht muss ich euch leider enttäuschen: Neue Brennvin-Weisen habe ich dort nicht lernen können.

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